Zeichenblock mit Sketchnote mit vier Stationen meiner Ankunft

Was ist der Unterschied zwischen einem Ostwestfalen und einem Einwanderer?

Der eine ist verschlossen, der andere zugezogen. Brouhaha! Nein, ohne Witz: In diesem Text geht es um meine Identität als Einwanderer. Was macht mich anders als die Alteingesessenen? Ein Konflikt, der mich ein Leben lang begleitet. Zwei Seiten, und unterschiedliche Bedürfnisse aufgrund der anderen Erfahrungen

Man sagt, Ostwestfalen seien stur. Ich habe neulich gehört, wie hier jemand stolz sagte, „ich geb’ nie auf“. Ich hab mir dann vorgestellt, dass so jemand ein sehr harter Verhandlungspartner sein muss. Und es sehr schwer sein wird, diesen Partner von etwas Neuem zu überzeugen. Von etwas Neuem, was nicht von Anfang an in seinem Vorstellungsrahmen gewesen ist. Und ich kenne viele in meinem Bekanntenkreis, die diese Charakterschaft aufweisen. Die sind sehr zäh im Verhandeln, und „haben es zu etwas gebracht“. (Man kann sie nur mit einer Sache überzeugen, auf dem Verhandlungsgebiet „mehr Land gewinnen“: Indem man zeigt, dass man erfolgreicher ist als sie.) Vielleicht ist damit auch der Erfolg der Region zu erklären – all die Mohns, Oetkers, Schücos, Claas’, Mieles und ungezählte „Hidden Champions“. Ich stelle mir einen Landwirt vor, der sich trotz aller Widerstände um seinen Grund und Boden kümmert. Er zeigt Verantwortung. Er bleibt dran und ist verlässlich; und vermehrt seinen Wohlstand – von Generation zu Generation. Beharrlichkeit. Aber auch gewisse Verschlossenheit und Vorsicht gegenüber dem Neuen und Unerprobtem.

Als Zugezogener kann ich diese Qualität des Dranbleibens nicht vorweisen – auf den ersten Blick. Um irgendwo weg zu ziehen, muss man erst mal Dinge aufgeben. Das erscheint jemandem, der wer weiß wie viele Generationen eine Wirtschaft unterhält, erst mal unverantwortlich. Meine Erfahrung ist, dass sich das Aufgeben lohnt, wenn das Weitermachen aussichtslos ist.

Ich werde in der Arbeit gefragt, worauf ich Bock hab? Ich antworte: Auf was Neues. Mir wird erwidert, wir müssten uns auf das verlassen, was wir können. Und wir müssten wirtschaftlich sein. Das neue bringt erst mal nix. Das ist eine sehr ostwestfälische Antwort. „Kinkerlitzchen“.

Risiko des Scheiterns? Herbeibeschwören, dass alles noch hält

Wie Nora Bossong heute (am 15.12.2021) im Deutschlandradio Kultur sagte, mit dem Satz „Es kann gut gehen und es wird schon gut gehen“ versucht Olaf Scholz uns einzulullen. Er hätte Angst, von der Möglichkeit des Scheiterns zu sprechen. Und manchmal gingen die Dinge halt nicht gut, so Bossong weiter. Diese Wahrheit könnte man erwachsenen und mündigen Bürgern ruhig zumuten.

Ich glaube, ökonomisch sind wir so verwöhnt, dass wir uns das Scheitern gar nicht mehr vorstellen können. Etwas Neues lassen wir nur zu, wenn es das Alte vermehrt. Das Alte darf nicht verändert werden. Startups dürfen sein, aber sie dürfen zu keinen Paradigmenwechseln führen; sondern das alte Wirtschaften auf eine neue Stufe stellen, neue Märkte erschließen und Wachstum fördern. Weil es scheinbar die einzige Basis ist für das, was die einen „Wohlstand“ nennen. Das ist ein stabiles System.

Fortschritt oder Veränderung

Wann wird ein System so instabil, dass sich das Aufgeben als die bessere Option erweist? Man nichts mehr zu verlieren hat? Und die Hoffnung wächst, hinter dem Horizont neue Chancen zu finden? Und man wirklich weitergehen muss, „beyond tellerrand“? Das ist ein Drehpunkt, den jeder bereits kennt, der zuwandert.